Nio ET5: Auf Tauschstation – erste Testfahrt
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Richtung Reich der Mitte blickt mindestens die halbe Welt derzeit eher mit gemischten Gefühlen. Zur politischen Skepsis gegenüber dem fast schon allmächtigen Staats- und Parteichef Xi gesellt sich die wirtschaftliche Sorge, China könnte bald sämtliche Märkte rund um den Globus beherrschen. Beim Elektroauto ist das derzeit noch nicht ansatzweise so – zumindest nicht in Europa. Doch Experten sehen auch hier schon Vorboten einer gewaltigen Umwälzung.
Zumal sich jahrzehntelang währende Gewissheiten umgekehrt haben. Wickelten sich dreiste Nachbauten aus Fernost in den 2000er-Jahren bei Crashtests noch förmlich um die Barrieren, tragen Autos chinesischer Provenienz fünf Sterne heute nicht mehr nur auf der Nationalflagge, sondern reihenweise in Zertifikaten renommierter Prüfinstitute. Für das besonders bei deutschen Herstellern gern gepflegte Gefühl technischer Überlegenheit besteht da also eher kein Anlass.
Nicht mal mehr im Premium-Bereich, in den das chinesische Start-up Nio vorstoßen will. Nach den geräumigen Versionen ES8 und ET7 zum Auftakt folgt mit dem allradgetriebenen ET5 nun ein schnittiges Kompaktmodell. Und auch mit diesem dritten Familienmitglied will das Unternehmen das charmante, aber schon mehrfach verblichene Konzept des Tausch-Akkus wiederbeleben.
Im großen Unterschied zu Deutschlands Premium-Marken nämlich geht Nio auch im Untergrund zu Werke. Eigenständig fährt der Wagen in eine spezielle Garage, aus deren Boden ein hydraulischer Heber unter dem Wagen andockt, automatisch die Verriegelung löst und den leeren Akku in der Versenkung verschwinden lässt. Von der Seite rollt geladener Nachschub ein, Heber hoch, Schrauben rein, fertig. Dauert rund fünf Minuten – und klappt somit schneller, als man sein Käffchen gekippt hat.
Großer Vorteil des Systems: Der Wertverlust eines alternden Stromspeichers kann einem herzlich egal sein. Stattdessen hat man stets das technisch Neueste unter dem, Pardon: Hintern – und kann bei Bedarf sogar die Kapazität wechseln. 100 und 75 kWh beherbergen die aktuellen Akkus, einer mit 150 soll in Bälde folgen. Und natürlich ist der Wechsel von Geisterhand kein Muss. Auch an Steckdose, Wallbox und Gleichstromlader lässt sich der ET5 befüllen. Mit 11 kW hier und maximal 140 kW dort allerdings längst nicht so kraftvoll und schnell wie manche der Konkurrenten.
Kollateralnutzen des Roboter-Systems: Man muss bei schlechtem Wetter kein Kabel ausrollen, nicht für die komplette Ladezeit Schlange stehen, und obendrein werden die lagernden Batterien stets schonend mit 40 kW Ökostrom und bei optimalen Temperaturen gefüllt. Zudem taugen sie als Puffer, wenn – bei erneuerbaren Energien nicht unüblich – der Strom mal wieder plötzlich und heftig fließt. Nachteil: Nio muss deutlich mehr Akkus vorhalten als Autos im Umlauf sind. Und das Netz darf man durchaus als grobmaschig bezeichnen. Auf Tauschstation kann man in Deutschland an gerade mal drei Stellen gehen – Zusmarshausen bei Augsburg, Hilden nahe Düsseldorf und Berlin. Bis zum Jahresende verspricht Nio in Europa 70 weitere Wechselpunkte, die meisten davon in Deutschland.
Wäre noch das Auto selbst: Da haben sie sich bei Nio nicht lumpen lassen und schick was auf die stahlgefederten Beine gestellt. Die gern zitierten Spaltmaße sind kein Thema, im Innenraum macht sich der ET5 schön angreifbar, lockt mit Qualität, und sogar das Ambientelicht hat edlen Charakter. Sehr viel einladender kriegt man es auch bei Deutschlands Premium-Produzenten nicht. Sicherer übrigens ebenso wenig. Beim NCAP-Crash-Test stehen die maximalen fünf Punkte.
Kommod hat man es auch. Jedenfalls vorne. Im mindestens zwölffach verstellbaren Fauteuil und mit reichlich Platz zum Nachbarn. Nicht ganz so bequem geht’s trotz einer sensationellen Überkopfverglasung in zweiter Reihe zu. Wegen des aufragenden Akkus und nur einem Spalt unter den Vordersitzen müssen Hintersassen ihre Knie über Gebühr anwinkeln. Aber der ET5 ist mit 4,80 Metern eben auch runde 30 Zentimeter kürzer als der ET7 – und ganz ohne ein bisschen Demut vor dem Design geht’s halt nicht. Dafür versöhnt der Innenraum mit Nachhaltigem aus Naturfasern und recycelten PET-Flaschen. Im Gepäckfach kommen 386 Liter unter, für mehr Fracht dürfen achtern 1,4 Tonnen an den Haken.
Rund um das digitale Mini-Cockpit und den Bildschirm über der Mittelkonsole geht es höchst aufgeräumt zu, ja geradezu minimalistisch. Sogar die Lüftungsdüsen hat Nio versteckt. Was alles sensationell dezent aussieht, bei so einfachen Dingen wie Heizung oder der Verstellung von Lenkrad und Außenspiegeln aber den Touchscreen erfordert. Das kann man mögen – muss man aber nicht. Ebenso wie Nomi – eine Art Smiley-Version von Alexa, die sprachliche Wünsche meist erhört und obendrein aus einem Kugelköpfchen mit digitalen Augen zwinkert. Gibt’s für altmodischere Zeitgenossen auch flach, schnickschnacklos und vor allem ohne 600 Euro Aufpreis.
Behütet wird man von 33 Sensoren unterschiedlichster Technologie. Ungewohnt, aber schwungvoll integriert ist der sogenannte Watchtower: Das 500 Meter weit reichende Lidar und die Kameras sitzen – der besseren Übersicht wegen – in knubbeligen Hörnchen vorne am Dach. Die Daten wiederum speisen eine ganze Armada an Assistenz, deren Software beständig „over the air“ aufgefrischt wird. Ein Update nötig hätte in jedem Fall die Geschwindigkeitserkennung, die auf freier Autobahn nicht selten zweistellige Limits vorgaukelt, mitten in der Ortschaft aber auch mal 100 erlaubt. Durchaus überraschend bei einer verfügbaren Rechenleistung, die laut Nio 100 Playstations 5 entspricht. Gelegentlich zuckt unvermittelt auch das Lenkrad mit nachdrücklicher Korrektur.
Ungewohnt, aber praktisch: Der ET5 braucht weder Zündschloss noch Startknopf. Einfach Hebel Richtung D und los. Der Knopf für die Parkstellung sitzt an der Seite. Ungewohnt, aber unpraktisch: Die Hebel für die Türöffnung verstecken sich fummelig am Rand der Seitenfächer. Design ist halt nicht alles.
Ordentlich in Schwung gebracht wird der knapp 2,2 Tonnen schwere Wagen mit 360 kW, von denen 150 vorne (asynchron/induktiv) Dienst tun und 210 (synchron/permanenterregt) hinten. So schiebt der ET5 bei Bedarf mächtig vorwärts, kommt im Modus Sport+ in exakt vier Sekunden auf eine dreistellige Tacho-Anzeige und weiter bis Tempo 200. Nachhaltiger indes ist das souveräne Dahingleiten in den Stellung Comfort und Eco. Auch in China gilt schließlich Buch eins der Batterie-Bibel: Dynamik kostet Distanz. Bei fernöstlicher Gelassenheit reicht der kleine Akku für maximal 456 Kilometer (WLTP), die mittlere für 590.
Das Fahrwerk gibt sich straff, bewahrt aber stets einen ausreichenden Rest an Komfort, und im Grenzbereich geht’s gut kontrollierbar Richtung Tangente. Masse schiebt halt. Die Lenkung indes dürfte bei einem solchen Summ-Brummer durchaus stärker das Gefühl vermitteln, dass Vorderräder und Volant miteinander zu tun haben. Dafür beißen die Brembo-Zangen zu, dass es eine Freude ist. Aus Tempo 100 steht der ET5 nach gerade mal 33,8 Metern.
Einigermaßen kompliziert wird’s beim Geld. Ein Einstiegspreis von 47.500 Euro klingt verlockend und bietet zudem gerade noch so die maximale staatliche Förderung. Dummerweise ist da die Batterie noch nicht dabei. Die nämlich lässt sich Nio zusätzlich mit 12.000 (75 kWh) oder 21.000 Euro (100 kWh) vergüten, wahlweise monatlich mit 169 oder 289 Euro. Allerdings: Nur wer mietet, kann an den Tauschstationen „swapen“. Dritte Möglichkeit – und ohne Kauf – ist das reine Rundum-sorglos-Abo des ET5 inklusive Versicherung, Wartung, Winterrädern und Service samt Leihwagen. Die Preise variieren je nach gewählter Laufzeit und starten bei 999 Euro im Monat.
Die Zeiten, da chinesische Autos billig waren, sind halt vorbei.
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